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Auf der Suche nach dem Glück: Morton

Morton ist auf der Suche nach dem Glück. Menschen wie Morton begegnen mir so zahlreich, dass eine kleine Serie Auf der Suche nach dem Glück Sinn macht. Charakteristisch für Menschen von Mortons Schlag ist, dass sie auf ihrer Glückssuche bemerkenswert unglücklich agieren. Und damit das Glück sicher auf Distanz halten.

Ich suche, noch in Kanada, schon ein beschissenes Weilchen erfolglos nach einem Schlafplatz. Irgendwann geht rechts, am Fuss eines Hangs, ein Grundstück auf, eine kleine Deponie, nichts Verstrahltes, wie mir scheint, am Ufer eines Sees. Zwischen bewegter Erde und Wasser sehe ich einen vielversprechenden Streifen Gras, mit dichtem Baumbestand, abgelegen genug, um den Versuch zu wagen. Gleich ist es dunkel. Ich finde eine Lücke im Zaun, zwänge mich und mein Bike durch, schiebe mein Rad Richtung Ufer. Plötzlich eine Männerstimme. „Bailey.“ Verdammt, denke ich mir. 200 Meter vor mir stampft ein Typ aus dem Busch. Wahrscheinlich der Landeigner. Switch zu Plan B: Verzweifeltes Gesicht, erschöpfte Haltung, fragen, ob man, klar, das sei sehr unverschämt, aber ob man vielleicht doch auf seinem Land campen könne. Nur für eine Nacht. Und man wäre auch früh wieder verschwunden. Ehrenwort. Platz ist genug, das könnte sich ausgehen. Ich schlurfe auf den Mann zu. Er trägt schwere Stiefel, alte, fleckige Jeans, ein T-Shirt mit handtellergrossem Loch über der rechten Schulter. Dürfte um die Fünzig sein. Lächelt nicht. Die Augen, gerötet, scheinen fiebrig. Sie haben etwas Getriebenes. Vielleicht betrunken, wahrscheinlicher aber gerade ein Portiönchen Gras kredenzt. Schwer einzuschätzen, ob es zum Schlafplatz reicht.

„Hi there“, grüsse ich. Er grüsst zurück. Ob ich seinen Hund gesehen habe. Mittelgross, hellbraunes Fell. Ich verneine. Ob das sein Grund sei? Nein, er komme nur ab und zu her mit Bailey, seinem Hund. Ob er denke, dass man hier campen könne? Sicher. Er könne mir auch zeigen, wo. Sein Englisch ist verformt, klingt nordisch an den Rändern. Ja, er komme aus Dänemark. Lebe seit einem halben Jahr in der Gegend. Seine Frau arbeite im Krankenhaus. Er sei Manager in einem grossen Unternehmen gewesen. Habe keinen Sinn mehr gesehen. Habe sein Gleichgewicht verloren.

Je näher wir zum Ufer kommen, um so beflügelter scheint Morten, so heisst der Mann. Er könne mir zeigen, wo er seine Zeit verbringe. Der Platz sei gut für ein Nachtlager. Er habe ihn über Google Earth gefunden. Er führt mich zu einem Felsblock, drei, vier Meter hoch, die Spitze eine Plattform, vielleicht einen halben Quadratmeter gross. Der Blick auf den fahl-grauen See ist trostlos, am anderen Ufer verläuft eine Bahntrasse, dahinter eine Monokultur dunkler Fichten. Der Blick zurück geht in die Deponie. Deponien sind nirgends so richtig inspirierend. Ich könne, wenn ich wolle, seinen Platz mitnutzen. Ich bedanke mich artig. Er gebe ihm, so erzählt mir Morten, ein friedliches Gefühl. Tut Gras auch, geht mir durch den Kopf. Er habe, noch in Dänemark, einen Schamanen der First Nations aus der Gegend um Erlaubnis geben, hierher kommen zu dürfen. Erst als der ihm das erlaubt habe, habe er herfliegen wollen. Sobald er seine Balance wiedergefunden habe, wolle er den First Nations deshalb etwas zurückgeben, Sozialarbeiter werden vielleicht. Vorallem aber lernen. Es gebe so viel von ihnen zu lernen. Ich erinnere mich an die First Nations, die mir begegnet sind: Gebrochene Individuen, oft gnadenlos besoffen und hin- und hergeblasen zwischen Gewalt und Depression.

Morton hustet. Der Ort scheint mir geeignet für das Vergraben von Gefahrengut, nicht für das Wiederfinden eines verlorenen Gleichgewichts. Ich erinnere mich an Bilder aus einem bestimmten TV-Format: Filmteams begleiten intellektuell minderbemittelte Populationen beim erfolglosen Versuch, im Traumland Fuss zu fassen. Mortens Chancen bei einem Casting wären intakt. Er ist nicht dumm, aber sein innerer Kompass dreht sich im Moment offensichtlich rasant im Kreis. Morton muss los. Ich bedanke mich, wünsche ihm Glück, er dreht sich weg. Noch für zehn Minuten höre ich seine Rufe nach Bailey. Der Hund bleibt ausser Reichweite. Das Glück für diesen Kollegen aus dem Land der Wikinger wohl leider auch.

Published in Menschen

2 Comments

  1. Ralph

    Ralph

    Hi André

    Ja, ja, die missglückten Glückssucher, anfangs immer knapp daneben, aber eben doch vorbei. Mit der Zeit dann, immer weiter daneben und vom kleinsten Quäntchen Glück meilenweit entfernt.

    Die einen geben früher auf als die anderen, aber letzten Endes geben sie alle auf, notgedrungen, auf dem Totenbett, aber meistens lange vorher, restlos ernüchtert und doch stockbesoffen.

    Dies bringt mich gleichfalls zu der delikaten Frage, ob wir letzten Endes nicht alle ein wenig „Morton“ sind. Sind auch wir nicht alle ausnahmslos auf der Suche nach Glück und ja, ein paar von uns erhaschen sogar einen Hauch davon, so lange der Wind günstig weht und der Regen nicht ins Gesicht peitscht, aber am Schluss?

    Sind wir am Schluss nicht ausnahmslos gefallene Glücksengel und die schlimmsten unter uns, haben auf ihrem Weg nach dem vermeintlichen Glück vielleicht erst noch jede Menge Menschen mit unglücklich gemacht.

    Ebenso darf man sich die Frage stellen, ob wir Menschen, sei es das grosse oder kleine Glück, vielleicht am falschen Ort suchen oder mit den falschen Mitteln, weil am Ende unseres Weges nie etwa anderes stehen wird, als eine zerplatzende Seifenblase vermeintlichen Glücks?

    Oder doch nicht? Gibt es einen Aus-Weg? Gibt es einen Weg zu wahrem Glück? Nun, vielleicht gibt es einen Weg, für jeden von uns, aber finden muss ihn jeder selber. Für sich alleine, in der Nacktheit seiner selbst, im Angesicht seiner Zweifel, seiner Aengste und seiner Illusionen. Vielleicht befindet sich das einzige Glück exakt jenseits davon.

    Mach’s gut und finde Du dein Glück unter den rollenden Rädern, gar keine so schlechte Sache, denn wenigstens läuft etwas.

    Ralph

  2. Weber Edith

    Weber Edith

    lieber André

    danke für Deine Ausführungen.
    Ich habe leider die Orientierung verloren, wo Du Dich momentan aufhälst.
    Wünsche Dir weiterhin viele grosse und kleine Freuden!
    Alles Gute und liebe Grüsse
    Edith

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