Skip to content →

Tom, ein Fruit Forest und viel Dope im Schlaraffenland

Tom ist WWOOF-Host und betreibt einen Fruit Forest im Norden Neuseelands. Die Farm läuft ordentlich, bleibt aber weit unter ihrem Potenzial. Tom will das ändern. Nicht heute, denn erstmal steckt er sich eine Tüte an. Und vertraut auf den Ertrag seines kleinen Schlaraffenlands.

Tom – ja, nennen wir ihn Tom – ist Farmer in Northland, der nördlichsten Ecke der Nordinsel Neuseelands. Tom ist knapp 60, hat graues, kurzes Haar, trägt fast immer ein Ensemble aus verwaschenem T-Shirt, beigen Shorts und braunen, verwitterten Crocs. Tom trennt sich gerade von seiner Frau – nennen wir sie Lindsey –, mit der er 25 Jahre lang seinen Fruit Forest kultiviert hat. Tom und Lindsey haben ein kleines Schlaraffenland geschaffen, das sie ohne viel Aufwand über die Runden bringt. Der Boden ist gut, reichlicher Regen hält ihn feucht, die Kulturen danken es mit weidlichem Wachstum. Tom und Lindsey bauen Avocados an, Orangen, Mandarinen und Pflaumen. Sie handeln mit Pflanzensamen, die sie im Busch und bei Privatleuten sammeln, und mit Palmsetzlingen, die sie im kleinen Low-Cost-Gewächshaus aufziehen. Der Arbeitsaufwand für die Sicherung des täglichen Bedarfs ist, rechnet man die Leistung der seit Jahren anheuernden WWOOFerinnen und WWOOFer ein, so übersichtlich, dass der Begriff Schlaraffenland nur einen Hauch zu hoch greift. Die Avos und damit die Dollars auf dem Farmers Market fallen Tom heute mehr oder wenig in den Schoss. WWOOFerinnen und WWOOFer kosten ihn, so erzählt er, zwischen 50 und 100 Bugs die Woche. Ein Trinkgeld für 20 bis 30 Stunden Arbeit pro Person. Allerdings bleibt er auf diese Weise bezüglich Ertrag weit unter dem Potenzial seines Betriebs. Tom weiss das.

Toms Farm ist rustikal. Sie katapultiert einen zurück in eine Vergangenheit, in der man sich wenig um Hygiene scherte und heiteren Gemüts in Strassengräben schiss. Bei Tom setzt man sich auf einen Toilettenring, der über einem Plastikeimer angebracht ist. Ist ein Deal erfolgreich abgeschlossen, deckt man ihn mit groben Holzschnitzeln zu. Ist der Eimer vollgedealt, kippt man den Inhalt unter einen Orangenbaum. Die Orangen schmecken trotzdem himmlisch. Vielleicht gerade deshalb. Wahrscheinlich gerade deshalb.

Der Farm sind die Schlachten der vergangenen Monate anzusehen. Tom trennt sich, wie erwähnt, gerade von Lindsey. Uneinvernehmlich. Sie ist eine bekannte, kampferprobte Öko-Campaignerin. Sie ist auch Borderlinerin. Mir geht auf: Borderline ist die ideale Persönlichkeitsstörung für Campaignerinnen und Campaigner. Borderlinerinnen und Borderliner lieben den Aufruhr, die Klage, besser noch: die Anklage. Ein Leben als friedvolle Koexistenz mit der Welt baut Druck in ihnen auf. Dieser Druck benötigt ein Ventil, einen Konflikt. Boderlinerinnen und Borderliner eskalieren unbedeutende Streiterei gewandt in heissblütige Fehde.

Im Haus, in dem seit Lindseys Auszug vor drei Monaten niemand mehr gewohnt hat (Tom zog sich vor einem Jahr in eine Art Strandhaus ohne Strand in einer anderen Ecke des Grundstücks zurück), türmen sich ranziger Müll und schmutzige Wäsche. Im Ausguss steht verkrustetes Geschirr. Es riecht nach feuchtem Geräteschuppen. Die Scheiben der Fenster sind stumpf von Spinnweben. Das schwere Grün des Fruit Forest hat sich ganz ans Haus herangearbeitet. Es schluckt das Licht und gönnt den vier Räumen – zwei Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, ein Wohnzimmer mit Küche – nicht mehr als ein schummriges Zwielicht. Tom zeigt mir das Haus auf einem Rundgang nach meiner Ankunft. Ich schaue mich um. Meine Haut beginnt zu jucken.

Mit Tom hat man gut lachen. Ich erzähle, dass ich kurz Kommunikation bei der Schweizer Bundespolizei betrieben habe. Er vermutet, spasseshalber, dass alles ganz anders sei, dass vielmehr die Bullen nach mir fahnden, dass mitten in der Nacht Hubschrauber über seinem Grundstück kreisen könnten, dass ich, nackt, weil keine Zeit zum Anziehen, auf dem Rad türmen könnte: Ein Naked Swiss, der sich auf seinem Manufaktur-Tourenrad durch die Buschlandschaft Northlands schlägt. Ein faszinierendes Bild. Wir spinnen den Running Gag über Tage weiter und lachen uns scheckig: Ich könnte Polizeibeamter sein, im Auslandseinsatz auf seiner Farm, um herauszufinden, was er wirklich treibt. Ich könnte, wenn ich auf seiner Veranda sitze und „E-Mails von Freunden und Familie beantworte“, in Kontakt treten mit der Bundespolizei, Nachschub verlangen an Zeit und Geld. Offiziell, um weiter untersuchen zu können, eigentlich aber, um schlicht noch ein Weilchen bei Tom bleiben zu können. Weil die Avos so lecker schmecken, weil kühles Bier um Beer O‘Clock so reichlich vorhanden ist und weil Farmarbeit in Northland so viel inspirierender ist als Schreibtischroutine in der Schweiz. Als ich drei Tage lang eine Magen-Darm-Geschichte mit mir herumtrage und eines Nachmittags am Computer sitze, mutmasst er: „Schreibst du gerade der Polizei? Meldest du ihnen: Ihr Ärsche habt den falschen erwischt mit eurem verfickten Virus?“

Tom ist eine Enzyklopädie der nativen Flora und Fauna. Kein Kraut, das er nicht kennt, kein Vogel, den er nicht im Handumdrehen bestimmt. Er hat sich, so viel ist sicher, auch mit den strategischen Fragen seines Geschäfts auseinandergesetzt. Er spricht ausgiebig von Diversifikation, Nischen und Produktzyklen. Tom spricht grundsätzlich sehr viel. Eines Nachmittags, beim Tee, erklärt er mir das Pavarotti-Prinzip. Nie gehört. Klingt nach barocker Masse. Lass krachen, denke ich mir. Es beschreibe die Tatsache, so fährt Tom fort, dass ein Unternehmen sehr zuverlässig mit nur 20 Prozent seines Aufwands erstaunliche 80 Prozent seines Ertrags erwirtschafte. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dafür komme ich in die Hölle, schon klar. Trotzdem: Pavarotti dreht sich im Grab. Pareto auch, nach dem das Prinzip eigentlich benannt ist. Und: Pavarotti betreibt wegen seines Bauchumfangs sehr wahrscheinlich 80 Prozent mehr Drehaufwand. Gesichert ist nichts.

Tom will mit seinem Geschäft jetzt durchstarten. Er werde seine Frau, bald Ex-Frau, ausbezahlen und dann Gas geben. Ich würde ihm den Erfolg gönnen. Ich mag Tim, ganz ehrlich. Zwei Male finde ich ihn, noch in den Dunst von Gras gehüllt, überrascht und leicht verpeilt vor. Das erste Mal bauen wir gleich danach an einem Low-Cost-Radanhänger aus Bambus weiter. Er will damit Leergut zur Sammelstelle transportieren. Hat jetzt nicht direkt mit seinem Kerngeschäft zu tun, auf das er sich, so scheint mir, mit voller Kraft konzentrieren sollte, aber man muss auch mal ans Leergut denken. Ich merke, dass ihm das Gras den mentalen Bauplan etwas zerschossen hat. Er fixiert Draht am Anhänger … fixiert Draaaht … am Aaaanhänger … aber wo und wofür noch gleich … Draaaaht, gleich hab ichs … Tom merkt, peinlich berührt, wie konfus er mit dem verflixten Draht herumfummelt. Verdammtes Dope. Das zweite Mal wollen wir ein Possum zerlegen. Possums sind die Plagegeister Neuseelands und dürfen deshalb, no matter how, bejagt werden. Tom fängt sie in Fallen. Er zeigt meinem WWOOF-Kollegen, wie man sie zum Kochen vorbereitet. Ich schaue zu. Wie gesagt: Tom hat eine Tüte intus. Er sitzt auf dem Boden, im Feld, das Possum vor sich. Er löst das Fell vom Fleisch, trennt einen Vorderlauf ab, einen Hinterlauf auch, dann zieht ihm das Dope die Spannung aus dem Körper. Tom übergibt an den WWOOFer, stützt sich mit den Armen gegen hinten ab, der Winkel zwischen Armen und Oberkörper wird grösser, schliesslich zwingt ihn das Dope flach auf den Boden. Er liegt auf dem Rücken, zehn, fünfzehn Minuten, schaut in die Wolken, schliesst die Augen und referiert über Possums. Und Hirsche. Die er geschossen hat. Ihr Fleisch. Zergehe. Wie Butter. Auf der Zunge. Es ist elf Uhr morgens. Tom will durchstarten, aber nicht heute, so viel ist sicher. Heute muss ihn sein Schlaraffenland noch etwas über Wasser halten. Was die Zukunft bringt? Wir werden sehen. Gesichert ist nichts.

Published in Menschen Uncategorized Was ist WWOOF?

2 Comments

  1. Jrène

    Jrène

    Habe heute zum 2. Mal die Tom- Geschichten gelesen: einfach hervorragend lieber André!
    Danke für diesen Genuss!

  2. Ralph

    Ralph

    Hoi André
    Es liesse sich die Frage stellen, ob Tom’s Schlaraffenland eben wegen dem Dope eines ist oder ob ein gerüttelt Mass Dope erst die Fiktion eines Schlaraffenlandes wiedergibt. Man könnte auch fragen, wie viel Dope der Erzähler dieser Geschichte aus reiner Freundschaft zu Tom verköstigt hat, bis er sich im Schlaraffenland wiederfand :).

    Ganz sicher aber frage ich jetzt nicht, was die herrlichen Haschpflanzen von Tom so vorzüglich macht, doch sicher nicht etwa der qualifizierte Dünger aus einem riesen grossen Eimer Big-Deal, was allerdings den Begriff „Good Shit“ aus Toms Naturapotheke zu einem wortwörtlichen Erlebnis machen täte.

    Fragen über Fragen also, wobei mich am brennendsten interessieren würde, wie Tom es schafft, seine Farm trotz seiner Borderline veranlagten Ex, zum expandieren zu bringen, nachdem sie ihm den letzen Penny aus der Tasche gezogen hat – aber hoffentlich nicht sein letztes, zartes Dope-Pflänzlein.

    Beste Grüsse an dich und vielen Dank für deine genauso spannenden wie bildhaften Erzählungen, welche zu lesen immer wieder ein Genuss sind – mit oder ohne Dope in der Birne.

    Ralph

Comments are closed.

XSLT Plugin by Leo Jiang