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Die Biester sind überall!

Sie haben verdientermassen einen schlechten Ruf, kommen in jedem Kanada-Reiseführer vor und sind in natura noch viel schlimmer als in den schlimmsten Beschreibungen: Los Mosquitos, die Stechmücken.

Sie haben mit jeder Garantie ihr eigenes Kapitel in jedem Kanada-Reiseführer, und das, verdammt, mit jedem Recht der Welt: Stechmücken. Allerdings: Es gab keine in Vancouver und höchstens eine gute Hand voll jeden Abend auf Vancouver Island. Man kommt so schnell zum Schluss: Stechmückenalarm gilt für Schattenparker. Der echte Outdoorer kommt damit klar. Dem echten Outdoorer hätte aber vielleicht die Warnung des alten Kanadiers zumindest im Ansatz doch zu denken gegeben: „Abwarten, mein Freund. Die Insel hat mit der Realität auf dem Festland nichts zu tun.“ Bella Coola, meine erste Station auf diesem Festland, hätte nun im Supermarkt ein reiches Sortiment an Sprays, Lotionen und Cremes geboten. Der echte Outdoorer fand: Früh genug, etwas zu kaufen, wenn das Problem wirklich akut wird.

Ich radle von Bella Coola zum Fuss des 1500 Meter hohen Heckman Pass. Die Hitze drückt, die Strasse ist in miesem Zustand, Kies und Sand, so locker, dass mein Rad keinen Grip bekommt. Der Aufstieg, über 20 Kilometer lang, würde zur Tortur werden. Zudem ist es schon drei Uhr nachmittags, also dürfte es halb sechs oder sechs werden, bis ich die Passhöhe erreiche, dann bräuchte ich nochmals zwei Stunden bis zum geplanten Stopp für die Nacht. Ich entscheide mich für „Daumen raus“. Minuten später sitze ich auf der Ladebrücke eines Pick-up-Trucks und fliege im gestreckten Galopp den Pass rauf. Der Fahrtwind kühlt, das Panorama wird mit jedem Höhenmeter spektakulärer. Die Fahrt dauert gute 20 Minuten. Die Fahrerin stoppt auf der Passhöhe. Ich könne sitzen bleiben, wenn ich wolle. Ich entscheide mich fürs Abladen und weiterradeln. Bikerstolz – was soll ich sagen. Wir stehen noch einen Augenblick beim Truck, plaudern. Sie meint: „Ich hoffe, du hast etwas gegen die „Bugs“, die Mücken, dabei. Die Biester wüten hier oben „like hell“. Synchron spüre ich einen feinen ersten Stich über dem linken Knie. Bilder von Reiseführern, alten Kanadiern und Supermärkten schiessen mir durch den Kopf. Ich ahne es, jetzt ist Zahltag. Ein zweiter, dritter, vierter Stich. Ich scheuche einen ganzen verdammten Schwarm Mücken von meinem Bein. Er dreht eine Runde, kehrt zum Bein zurück und setzt neu zum Stich an.

Jetzt sind die Biester überall, die Welt wird zur Mücke: Arme, Hals und Gesicht sind in Sekunden mit Stichen übersät. Ich versuche, Haltung zu bewahren. Ich sage: Oh, ich müsse mich langsam auf den Weg machen, es sei ja noch etwas hin bis zur Schlafgelegenheit. Ich denke: Leck mich, wenn ich nicht losfahre, mach‘ ich hier gleich den wilden Mann! Rauf aufs Rad, grosse Gänge rein, kurbeln, was die Beine rausrücken. Die Mücken werde ich los, die Rossbrämen aber nicht, allerdings surren die nur um Kopf und Beine, stechen erst, wenn ich langsamer werde. Wie gut, dass die Schotterstrasse vom Pass herunterführt und nur dann und wann leichte Steigungen bringt. So halte ich mein Tempo hoch und schaffe es zum nächsten B&B. Dort verlange ich als erstes Wasser, denn das hohe Tempo hat seinen Tribut gefordert, das Trinkwasser ist schon lange alle. Als zweites verlange ich etwas gegen die Mücken, denn mein Schlafplatz, Anaheim Lake, liegt noch mittendrin im Kriegsgebiet. Nette kleine Hügel wachsen mir aus Armen, Beinen, Gesicht. Selbstbeherrschung. Zen. Konfuzius sagt: Der Kluge reist im Zuge. Nur nicht kratzen, denke ich – man weiss es: Das macht das Desaster nur noch schlimmer. Stundenlang beisse ich auf die Zähne. Nachts im Zelt dann brechen die Dämme. Ich kratze mich in den Schlaf und träume von Superkanadiern, die in alten Führern Reisemärkte kaufen.

Sie kommen leichtflüglig daher, wiegen zwei Milligramm und lassen sich seidenfein auf dir nieder. Du spürst sie kaum. Sie stechen zu und bringen ein Protein in die Einstichstelle ein, das das Gerinnen des Blutes verhindert und dir schlaflose, weil juckende Nächte beschert. Gewusst: Es sind nur die Weibchen, die zur Plage werden, der Rüssel des Männchens eignet sich lediglich für das Aufsaugen z. B. von Nektar. Ein Schelm, wer Böses denkt bzw. bei blutsaugenden Weibchen an den Homo Sapiens denkt. Manchmal schlabbern die Biester den Lebenssaft derart genüsslich, dass sich um rund um die Einstichstelle blutrotes Geschmier bildet. Mückenweibchen im Blutrausch. Kratzen vor dem Einschlafen wird noch tagelang Ritual bleiben. Klug ist das nicht, siehe oben, aber nur wenige sensorische Genüsse erreichen diese Höhen. Gelobet sei das Kratzen. Und die Mückenlotion – wenn man sie denn auch dabei hat.

Im Krieg gegen die zweiflügeligen Plagegeister reiht sich an einem anderen Abend überraschend ein Waffengefährte ein. Es ist etwas nach halb Zehn, ich zupfe Babykarotten für den „farmers market“ am kommenden Tag. Schon um Acht spürte ich erste Stiche. Jetzt ist die Schlacht in vollem Gange. Ich zupfe, so schnell ich kann, blase mir Mücken aus dem Gesicht, schlage mir abwechselnd auf Unterschenkel, Arme, Hals. Nur noch ein paar Karöttchen, denke ich. Mit einem Mal brummt ein dunkler, fingergrosser, geflügelter Geselle um mich herum. Erst vermute ich einen Kolibri, dann wird klar: Es ist eine Libelle. Genauso klar wird: Sie jagt Mücken. Schnell ist da eine zweite, dritte. Bald knattern sechs, sieben Libellen um mich herum, viele Male schiessen sie Zentimeter an meinem Gesicht vorbei. Wo gerade noch eine Mücke surrte, spüre ich – nichts. Die Mücke ist weg, die Libelle hat sie geholt. Man sagt, Stechmücken würden, sobald sie eine Libelle hören, das Weite suchen. Libellen sind ab heute meine Lieblingstiere, ganz ehrlich!

Published in Tiere

5 Comments

  1. Weber Edith

    Weber Edith

    Lieber André, Du Heimgesuchter, Geplagter!
    Diese grausamen, qualvoll schrecklichen, nervenaufreibenden, juckendbeissenden Kanaillen-Luder-Weibsstücke-Biester!!!
    Aber für uns Schattenparker ein herrlicher, unterhaltsamer Lesegenuss und ich kann Dir sagen, Erika und ich haben jetzt am Telefon genauso – einerseits gelitten wie Du – uns aber andererseits am Lesen genauso amüsiert, wie Deine Blogfreunde.
    Schreiben kannst Du in der Tat GROSSARTIG! Du musst all diese Abenteuer in einem Buch veröffentlichen; denn es liest sich wie ein Butterbrot mit Honig!
    Ich werde all Deine Texte mal in den Auhof senden, damit sie sich daran erfreuen können!
    Erwarte schon mit grosser Freude Deine nächsten Berichte! Ist soooo super, dass Du uns teilhaben lässt, an Deinen spannenden mordgeschichtenähnlichen Erlebnissen und Wagnissen!
    Wir wünschen Dir bis dahin alles Liebe!
    Edith und die ganze Sippe

  2. Heidi

    Heidi

    Verzeih, wenn ich so schamlos bin lieber André aber: Grosses Amüsement trotz Stechmückenplage geht da für mich mit Deinem Text ab! Mein vom Zmittagssandwich gefüllter Bauch schmerzt vor lachen und ich bin Dir in Gedanken heroisch und stramm in den Mückenkrieg gefolgt. Zumal ich vor weniger als zwei Monaten ähnliche Erlebnisse in beautiful Canada haben machen dürfen. Im Vergleich zu Meinereinermann ist es mir dabei aber noch gnädig ergangen: Erst verwandelten die Mücken seine Fussfesseln in eine Hügellandschaft. Dann folgte (offenbar in der Nacht) ein Schwarm Black Fly und das Drama nahm seinen Lauf…
    André, kauf Dir Mückenspray!

  3. Ralph Greber

    Ralph Greber

    Hi André
    Also mein Mitgefühl hast du zwar bestimmt, aber damit lassen sich die Mücken leider auch nicht vertreiben.

    Am Ende deines Textes habe ich ausserdem bemerkt, dass ich mir dauernd den Hals gekratzt habe, so tief steckte ich in deiner Geschichte drin. Auch jetzt noch habe ich das Gefühl, es juckt mich überall an den unmöglichsten Stellen…

    Aber hey, siehs doch mal positiv, denn im Gegensatz zu Berglöwen und Bären haben Mücken nur Lust auf dein Blut, aber nicht auf dein Fleisch. So bleibt dir immer noch die Hoffnung, dass du zwar halb leer gesaugt aber wenigstens lebendig aus diesem Abenteuer wieder raus kommst.

    Ansonsten noch ein Typ: Schau einfach hin das du bis zum Abend fürchterlich nach Bier und Schnaps stinkst und sich auf deiner Haut Alki-Schweiss absetzt. Dies soll Mücken abschrecken, weil ihre Lieblingsduftnote überdeckt wird (habe ich bei den Deutschen auf Mallorca gelernt).

    Mach’s gut und übrigens lesen sich deine Texte super spannend. Bitte noch mehr davon.

    Liebe Grüsse
    Ralph

  4. Jrène Greber

    Jrène Greber

    Lieber André

    so ein wunderschönes Foto zu Beginn dieses Textes, dann all die Lacher die du mir mit deiner Erzählung bescherst, wie kann ich da auch nur einen Moment Mitleid mit dir haben??

    Na-ja, Libellen sind wirklich wundervolle Tiere!

    Gruss
    Jrène

  5. Hildegard

    Hildegard

    Hallo Du
    Ich wusste schon immer, dass Du Besonderes kannst. Also schreiben kannst Du, so dass ich beim Lesen das Gefühl hatte, mich würden ebenfalls Mücken piesacken.
    Toll

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