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Die Rache des Rocky Racoon und seiner Bandidos

Auf der Strecke von Portland an die Pazifikküste nach Astoria begegnen dem Reisenden in hoher Regelmässigkeit Tierkadaver am Strassenrand. Meist sind es Waschbären, die hier ihr abruptes Ende gefunden haben. Was mich, während des Kurbelns mental unterbeschäftigt, zur Hypothesenbildung animiert: Warum gerade Waschbären? Und könnte es Rache sein, wenn es nachts um die Packtaschen herum kratzt und schabt?

Es geht neuerlich an die Pazifikküste, schön, aber die Strecke hat es in sich: Auf dem Highway 30 von Portland nach Astoria, er ist gerade mal knappe 100 Meilen lang, zähle ich wohl mehr als 20 tote Waschbären, zehn Buschschwanzratten, viele Rehe und ein paar Kadaver, aus denen sich das Tier ohne ausgeprägten Sachverstand nicht mehr herauslesen lässt. Der Verkehr rauscht hier durch Wald und Marschland, Lebensraum für zahlreiche Tierarten. Wer nun diese toten Tiere sieht, insbesondere die überdurchschnittlich häufig platt gemachten Waschbären, und während des Kurbelns viel Leerlauf im Kopf hat, beginnt, Hypothesen zu bilden. Was führt dazu, dass diese Tiere so flach wie eine neapolitanische Pizza Marinara auf dem Asphalt enden?

Hypothese 1: Unter Waschbären laufen Sportwetten. Die Sportart nennt sich Crosscountryroad, auf den ersten Bären, der die Querung schafft, warten Ruhm und Geld. Und jede Menge Sex, denn Crosscountryroadbären sind die Surferboys des Marschlandes. Kürzlich macht einer der Kronfavoriten das Rennen beinahe, vier Fuss vor dem Ziel macht ihn ein Logging Truck platt. Viel Geld geht verloren, das Wettgeschäft bricht ein, erholt sich aber bald. Man verspricht sich gerade viel von Berto Balloni, einem italiensichstämmigen Einwandererbären. Zwar wird ihm nachgesagt, er dope mit Essensresten von McDonalds, dies konnte ihm allerdings bis dato nicht nachgewiesen werden. Die Quote steht 90:10.

Hypothese 2: Unter den Waschbären finden sich sehr viele Anhänger eines primitiven, animalistischen Glaubens. Sie sind davon überzeugt, dass dahingeschiedene Ahnenbären im Blattgrün des Himmel wohnen und ein wöchentliches Opfer fordern. Am wertvollsten sind erstgeborene, männliche Tiere. Werden ihnen diese Opfer verwehrt, schicken sie Dürre, manchmal ungezügeltes Feuer, selten eine Handvoll grölender Rednecks, die die Glaubensgemeinde mit Schrot vollpumpt. Weil sich Waschbären nun schnell vermehren und es Erstgeborene wie totes Laub im Wald gibt, fragt man sich nicht, ob der Glaube Sinn macht, sondern opfert und opfert und – opfert.

Hypothese 3: Unter den Waschbären finden sich mehr und mehr Tiere, die extrem süchtig nach Adrenalin sind, einem Botenstoff, der in Extremsituationen ausgeschüttet wird. Diese Adrenalinjunkies des Tierreichs betreiben daher Street-Criss-Crossing. Der süchtige Bär versucht dabei mit geschlossenen Augen, nur nach Gehör, dem Verkehr auszuweichen und vier Mal in Folge die Strasse zu queren. Die ausgeschütteten Mengen Adrenalin sind immens, boten aber bisher nur eine sehr kurzlebigen Rauschzustand: Keiner der Junkies schaffte die vier Querungen. Aber hey, wie heisst es: Wir suchen doch nicht das lange, sondern das intensive Leben – live fast, die young and leave a good-looking corpse.

Hypothese 4: Alles ist ganz anders und es donnert einfach zu viel Verkehr durch die Regionen, in denen Waschbären leben. Die munteren Racker können somit nicht wirklich etwas dafür, dass immer mal wieder ein Kollege flunderflach in der Sonne vor sich hinmüffelt. Sie sind Opfer der Umstände. Was leichte Animositäten erklärbar macht. Und damit ein Erlebnis, das sich in vielen Nächten wiederholt: Rocky Racoon und seine Bandidos üben Rache am Menschengeschlecht. Und das geht so: Mann hat seine allabendliche Nudelsuppe (Dr. Noodles, wohl sieben Geschmacksrichtungen, ich hatte sie alle – und sie schmecken alle gleich!) geschlürft, das Geschirr gewaschen, die Zähne geputzt. Er legt sich ins Zelt, büschelt sich in einen Kokon aus Matte, Schlafsack und Kissen, schliesst die Augen, gähnt zufrieden und wartet auf den süssen Bruder des Todes, den Schlaf. Nach drei, vier Minuten raschelt es im Busch. „Eichhörnchen“, denkt Mann und dreht sich zur Seite. Bald hört er ein Kratzen, Schaben, Lecken und Scharren, wenige Meter entfernt. Dort, wo das Rad mit den vier Packtaschen steht. In denen das Frühstück steckt. „Alles easy, gibt ja keine Schwarzbären hier“, denkt Mann und gleitet samtweich ins Reich der Träume. Der Morgen danach bringt die unendliche Tragweite des Disasters ans Licht: Von den 20 Scheiben Brot sind gerade noch eineinhalb übrig. Rocky Racoon und seine Bandidos haben eine Scheibe nach der anderen aus der fest verzurrt geglaubten Packtasche herausgearbeitet – eine Meisterleistung, die Tasche selbst ist vollkommen heil geblieben. Das macht eines glasklar: Es wird ein hungriger Ritt zum nächsten Grocery Store und der ist in dieser Gegend nicht gleich um die Ecke. Die eineinhalb Scheiben muss man nicht, kann sie aber verstehen als Statement: Gotcha, Dummkopf, dies ist die Rache der Geplätteten, dies ist die Rache des Rocky Racoon und seiner Bandidos!

Published in Tiere

2 Comments

  1. Jrène

    Jrène

    Oh, André
    deine Fantasien, während du es „Leerlauf im Kopf“ nennst, sind hinreisend bis iggit, amüsant wie so oft und es ist schön, nach fast einem Monat wieder von dir zu hören/lesen.
    Ich frage mich, wie kannst du ruhig einschlafen, wenn unweit von dir Lebewesen ihr Unwesen treiben (vor allem wenn tagsüber Leichen deinen Weg säumen)?
    Kann es sein, dass in den 7 Sorten Dr. Noodles Suppen, Schlafpulver beigemischt ist und sie aus diesem Grund alle gleich schmecken?
    Ein Glück sind Waschbären so geschickt (danke für den Text Edith) und sich echte Gedanken machen, denn 1 1/2 Scheiben Brot reicht für den Blutzuckerspiegel vorerst und deine Taschen sind heil geblieben, was willst du mehr! Das sie sich auch noch fotografieren lassen, finde ich speziell, wenn man bedenkt, dass ihre Artgenossen von „selber Hand“ zu Tode kamen…, ja mir ist schon klar, dass deine Reifen nicht Schuld sind!!
    Also gib weiter Gas und erfreue uns mit deinen Geschichten und Bilder, vielen Dank!
    Gruss
    Jrène

  2. Weber Edith

    Weber Edith

    hallo André
    folgendes zitiert das Internet über Deine nächtlichen Diebe:
    Er verkörpert Geschicklichkeit und Intelligenz wie kaum ein anderes Tier und steht dennoch oft im Ruf, einer der größten Schädlinge zu sein: der Waschbär. Die Sache mit der Geschicklichkeit, steht in allen Büchern, stimme auf jeden Fall. Und die mit der Intelligenz sehr wahrscheinlich auch. Zwar kann man auch Waschbären nicht ins Köpfchen gucken. Wildtiere einem Intelligenztests zu unterziehen, ist äußerst schwierig. Deshalb bleibt die Beobachtung. Waschbären sind sehr anpassungsfähig, sie lernen schnell, erinnern sich über lange Zeit an kleinste Details und zeigen sich in ihrem Verhalten außerordentlich flexibel. Das spricht dafür, dass sie sich echte Gedanken machen und nicht nur aus einem Pool „genetisch fixierter Instinkthandlungen“ schöpfen. Herzig sind sie alleweil :)!

    Wünsche Dir weiterhin viel Spass und lustige Erlebnisse!
    Edith und die ganze Sippe

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