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Seattle oder: Wo, zum Teufel, ist der Grunge?

Seattle, einst Ausgangspunkt für den Grunge-Kometen Kurt Cobain, verwandelte sich im Zuge von Gentrifikation zum reibungslosen, antibakteriellen Hotspot für radfahrende Hipsterbärtlein und vegan-verpflegte Jungmütter. Ein Augenschein in „alternativen“ Vierteln der Stadt zeigt: Mehr als Pose ist hier nicht mehr zu holen.

In Washington, sagt man, regnet es. Immer. Man nennt den Regen hier deshalb Liquid Sunshine. Flüssige Sonne. Klingt besser, macht ihn aber nicht erträglicher. Washington brachte Kurt Cobain hervor. Cobains Mutter Wendy erinnert sich, ihr Sohn sei als kleiner Junge sehr besorgt um die Menschen um ihn herum gewesen, allen sollte es gut gehen. Es folgten Hyperaktivität und Überforderung der Eltern. Als Teenager war er nicht mehr zu fassen, wohnte abwechselnd bei verschiedenen Verwandten. Seine Stiefmutter erzählt: „He craved love and stability but continually found frustration and rejection.” Im New Yorker zitiert die Journalistin Sara Larson Cobains Schwester Kimberly: „I’m so glad I never got that genius brain.” Geboren 1967 in Aberdeen, Washington, Kindheit und Jugend mitten in einer schweren Rezession (Vietnam hatte gerade dicht gemacht, die Boeing-Werke entlassen in drei Jahren drei Viertel ihrer Leute), die Arbeitslosigkeit steigt auf 14 Prozent und erzielt damit den nationalen Topscore. Seattle ist platt. Cobain findet den Sound dazu: Grunge, charakterisiert als „sludgy guitar sound that uses a high level of distortion, fuzz and feedback effects, grunge fuses elements of hardcore punk and heavy metal. Lyrics are typically angst-filled, often addressing themes such as social alienation, apathy, confinement, and a desire for freedom”. Das war in den 1990er-Jahren.

Angst und Apathie sind verschwunden, zumindest an der Oberfläche. Mit ihr der Grunge. Der neue Sound Seattles flieht Distortion, Fuzz und Feedback wie der Teufel das Weihwasser. Seattle boomt. Eine Studie der University of Toronto identifizierte Seattle bezüglich Wirtschaftsentwicklung 2013 als zweiterfolgreichste Region der Welt. Boeing liefert wieder Flugzeuge – auch für friedliche Zwecke. Andere Unternehmen, Starbucks und Microsoft, pushen die Stadt hinsichtlich ihres Images meilenweit nach vorne. Innovation wohne jetzt in Seattle. Das Baugewerbe freut sich. Meine Hosts liessen gerade ihre Küche umbauen. Was sehr lange gedauert habe. Der Auftrag habe dem Unternehmen ein zu kleines Umsatzvolumen gebracht, man habe sich nicht darum gerissen und lediglich dann Präsenz gezeigt, wenn auf den grossen Baustellen nichts zu tun gewesen sei. Es warteten zu fette andere Kühe auf ihren Melker.

Wer heute in den „alternativen“ Vierteln Fremont oder Ballard flaniert, findet saubere Strassen, eine ambivalente Mischung aus alternativer Szene, Design, Mikrobrauereien, radfahrenden Hipsterbärtlein mit lustigem Velokäpplein wie aus den 1970er-Jahren und radikal-vegan-verpflegten Jungmüttern, die an den Prenzlauer Berg in Berlin erinnern. Oder, viel kleiner zwar, ans St.Galler St.Georgen, mit seinen Mamis und ihren multifunktionalen Kinderbuggys mit Halter für den Pappbecher von Starbucks, gerne alternativ, aber nur, wo es nicht weh tut. Denn schon schön, wenn der VW Tiguan oder Touareg drinliegt, hat auch so viel Platz für die Kleinen, und der Buggy lässt sich auch so schneidig ein- und ausladen. Das Teil ist schliesslich ganz schön schwer, nicht zuletzt wegen des Halters für den Pappbecher von Starbucks. Ist auch schön, wenn ein paar Mal pro Woche der Latte mit der Freundin drinliegt im angesagtesten Café der Stadt, das alle paar Monate ein neues ist, und der Znacht für Mami und Papi alle zwei Wochen in der gerade aktuellen Trend-Fresserei. Und ist halt schon auch schön, wenn das Hipsterbärtlein, das die ganze Geschichte finanziert, beruflich erfolgreich ist, Gel im Haar trägt und wöchentlich zur Maniküre geht. Macht die Hände so schön soft.

Seattle ist heute amerikanische Bürgerlichkeit, grün-rot besprüht. Man gibt sich noch alternativ, riecht aber nicht mehr so streng. Man ist nur noch selten beschwipst anstatt jede zweite Nacht volkommen weggeschossen. In Seattle macht gerade Shabby Chic das Rennen. Die Ballard Avenue, ein Beispiel, macht klar: Seattle macht nur noch den Anschein von Grunge. Seattle-Design scheint zwar schäbig, ist aber kostspielig, durchgestylt und allzeit antibakteriell-bereit. Zu sauber auf jeden Fall, um noch Reibung bzw. Wärme zu erzeugen. Spot für Spot ist austauschbar. Man wünscht sich den Schmutz des „armen, aber sexy“ Berlins, will Currywurst, will Frittenfett und von Zeit zu Zeit sogar den Dreck von Strassenkötern auf dem Gehsteig. Auf jeden Fall will man weniger von dem, was die Soziologie Gentrifikation bezeichnet, vom sozioökonomischen Strukturwandel, der ärmere Bevölkerungsgruppen aus grossstädtischen Vierteln ab- und wohlhabendere zuwandern lässt, was immer einhergeht mit einem Anstieg der Lebenskosten, was wiederum ein Mainstreaming der Menschen erzeugt, denn dieser Lebensstil will finanziert sein und der Kreis, der die Finanzierung stemmen kann, schliesst bestimmte Schichten und Kulturen recht regelmässig aus. Was ein Quartier sexy machte – der Dreck, der Lärm, der mit dem echten Leben einhergeht – verschwindet. Es bleibt die Pose.

Im vergangenen Sommer, so mein Host, regnete es in Seattle nur wenige Tage. Liquid Sunshine begründet hier wohl so schnell keine Depression mehr. Cobain würde heute den Smooth Jazz erfinden, wenn es ihn nicht schon gäbe. Depression findet ihre Ursache nur noch in der Melancholie mit Blick auf das abhandengekommene, Schmerz verursachende, aber echte Leben. Sie lässt sich managen: Frau Pharma schafft auch in Seattle eine schöne, neue Welt.

Published in Menschen Reiseroute Uncategorized

5 Comments

  1. Ralph Greber

    Ralph Greber

    Hi André

    Du bestätigst mir gerade sämtliche Vorurteile, welche mit dem „Great American way of life“ zusammen hängen, welcher meines Erachtens aus einem Drittel Selbstbetrug, einem Drittel Verlogenheit und einem Drittel gequirlter Scheisse besteht.

    Diese Scheisse erfindet ihren Zuckerguss immer wieder neu (Stichwort: American dream), ist aber letztlich das Ergebnis aus dem Nicht-Wahrhaben-Wollen der erwähnten Verlogenheit und des Selbstbetrugs .

    Illusion versus Realität, und in Amerika siegt die Illusion immer, denn zu schändlich ist die Realität, welche manchmal aus dem Lauf einer Schrotflinte stammt, wie Kurt Cobain zu berichten wüsste.

    Aufgepeppte, aufgemotzte, grell gestylte, alles Echte zerstörende Fassadenwände, dies ist Amerika, und dahinter? Ein beschämender Mangel an Authentizität, eine Bankrotterklärung an das wahre Leben und ein Schandfleck menschlichen Fehlverhaltens, unfähig zu jeglicher Einsicht, bis hin zur völligen Narkotisierung des kollektiven Gewissens.

    Vielleicht hat diese Erkenntnis letztlich dazu geführt, dass Cobain eine Schrotkugel dem American way of life vorgezogen hat. Vielleicht war Cobain der letzte aufrechte Amerikaner, unfähig zwar sich zu ändern, um der inneren Ödnis etwas entgegen zu setzen, aber immer hin konsequent genug, die rechten Lehren daraus zu ziehen.

    Beste Grüsse
    Ralph

  2. Peter

    Peter

    Lieber André
    Vielen Dank, für deine amüsanten und Abenteuergluschtigmachenden Texte.
    Wünsche dir alles gute, für den Rest deiner Experience.
    Liebe Grüsse
    Peter

  3. thomas enz

    thomas enz

    André! das ist ja cool, hängst im Ballard rum!!! :-)
    tja, ich glaub den grunge (hast bereits ein flanell-hemd?) suchen wir am besten in uns selbst.
    mach doch mal ein touri-programm, SPACE-NEEDLE, yeeeaaah, PIKE PLACE MARKET, yeeeaaah! trink fünfzehn red ales oder kamillen tees. oder fahr nach Renton, knie vor Jimi’s grab und denk an den song von selig “ ich wollte einfach danke sagen und dass es dir gut geht, dass es dir gut geht, dass es dir gut geht“
    ich hoffe die küche funktioniert bei deinen hosts. 😉
    alles liebe und ich erwarte weitere spannende Sachen.
    thomas

  4. Weber Edith

    Weber Edith

    Lieber André

    wie immer sehr interessant!
    Danke für die vielen Impressionen!
    Deine Sprache ist einfach umwerfend spannend! BRAVO!

    Weiterhin alles Gute und viel Freude beim Treffen von all den interessanten Menschen!
    Edith

  5. Lou Zollinger

    Lou Zollinger

    Hi there
    Its great to read your experiences and see your photos! Take care

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