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Heidis Juwel am Ende der Welt

An einem unscheinbaren Ort, fünf Meilen nördlich von Beatty im Bundesstaat Nevada, ist seit Jahrhunderten ein Juwel versteckt. Seine derzeitige Hüterin heisst Heidi und ein Besuch an diesem Ende der Welt lohnt sich. Immer.

In Beatty, dieser letzten Bastion von Subway und Denny’s Diner vor der tödlichen Wüste, trinke ich einen Kaffee. Dabei muss ich die Chefin des Ladens davon überzeugen, dass es nicht das Ende der Welt ist, wenn ich in einem Diner nach einem Kaffee fragen muss, nachdem mich das Personal lange Zeit schlicht übersehen hat. Sie bietet mir als Entschädigung Refill auf Refill, bis ich passen muss, weil das Herz rast, die Blase drückt und die Füsse scharren von dem ganzen verdammten Koffein. Der Diner hier ist Teil des Hotels mit eigenem Casino im Erdgeschoss. Eine weisse, etwas runde Mitsechzigerin sitzt am Slot-Automaten und spielt Runde um Runde, scheinbar seelenlos, zwei weit ältere Männer in Jeans, Hemd und Cowboystiefeln schauen ihr mit müden Augen zu. Läden wie diese sehen immer gleich aus: Dicker Teppich, bordeaux oder gold, Muster aus Rechtecken und Rauten und Kreisen, gedämpftes Licht, das auch um halb zehn Uhr vormittags den Eindruck erzeugt, es sei halb drei nachts und alles noch offen, wohl um der Trostlosigkeit des Geldverbrennens (am Ende gewinnt immer die Bank) zumindest optisch die Härte zu nehmen. Der Raum ist proppevoll mit blinkenden Slot-Maschinen, es klingelt und scheppert wie auf dem Rummelplatz. Hier ist sogar – die Glücksspielbranche muss über knallharte Lobby-Hunde verfügen – Rauchen erlaubt. Law and Order sind immer relativ. Aber lassen wir Beatty hinter uns. Heidi wartet.

Heidi ist ein schmutziges Mädchen. Sie trägt eine gestrickte Mütze in Türkis und scheint schwanger, ist das aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht, dafür scheint sie einfach zu alt. Also einfach sonst runder als der Schnitt. Sie stochert gerade mit einem Stock im stinkenden Cotton-Wood-Feuer oder besser Cotton-Wood-Rauch, denn das, worin sie stochert, erzeugt mehr Rauch als Feuer. Heidi erzählt, ihr Vater sei Norweger gewesen und ihre Mutter habe ihm erlaubt, ihr, der Neugeborenen, den Namen zu geben. Heidi. Dass ihre Wurzeln skandinavisch sind, ist unübersehbar. Strohblondes Haar, hellgrüne Augen und das sonnengebräunte Gesicht einer jungen Schwedin im Mittelmeerurlaub sprechen Klartext. Heidi, die verarmte, eben norwegische Version des Kult-Serien-Stars der 1990er-Jahre Roseanne, ist die Hüterin eines Juwels. Es ist verborgen in zwei einfachen Backsteinhütten mit Wellblechdach und lackierten, rustikalen Türen aus Holz. Es liegt hier seit Jahrhunderten, wahrscheinlich Jahrtausenden: Hot Springs, heisse Quellen, glasklares, heisses Wasser aus dem Inneren der Erde.

Ich schlage mein Zelt auf dem Rasen vor den beiden Hütten auf. Eine verfiltzte Katze scheisst in den Schilf, der den Rasen an seiner gegenüberliegenden Seite abschliesst. Zutritt zum Schatz gibts für acht Dollar. Oder wenn man für sechzehn sein Zelt aufschlägt. Das teucht Nicht-Eingeweihte viel. Eingeweihte zucken nicht mal mit der Wimper. Sie greifen sich den Schlüssel vom Tischchen vor Heidis Trailer, steigen die Handvoll Stufen zu einer der Hütten hinauf, schliessen die Holztüre auf, ziehen sich aus und steigen hinab. In die makellose Wonne. Denn: So schäbig das Rundherum, so atemberaubend ist das Bad im rechteckigen, knietiefen Becken mit dem kristallklaren, warmen Wasser. Draussen ist es dunkel und kühl, hier drin dampft es und die einzige Lichtquelle ist eine Glühbirne, die nackt an der Decke hängt. Sie spendet gerade so viel Licht, dass man sieht, wo man hintritt, nicht aber, dass sich an der einen oder anderen Stelle Putz von den Wänden löst. Verspannungen geben nach, die Kälte der Nächte in Yosemite schmilzt zu liquidem Wohlgefühl, Wärme dringt unwiderstehlich ins Fleisch. Mutter Erde umarmt mich. Es geht nicht anders, ich grummle wohlig. Oh, my God! Fragt man sich zu Beginn noch, warum die Becken nur knietief gegraben sind, gibt man sich die Antwort, indem man sich hinsetzt: Sie haben exakt die richtige Tiefe. Sitzt man einmal im groben Kies, steckt man nämlich genau bis zum Hals im Wasser. Wer nur über einen kurzen Oberkörper verfügt, setzt sich auf einen der mit daumennagelgrossen weissen Fliesen beklebten, rustikalen Backsteine und erfährt denselben Effekt. Die Welt kann warten. Auch länger. Ich auf jeden Fall bleibe hier sitzen, bei Heidi. Vielleicht für immer.

Published in Menschen Reiseroute

One Comment

  1. Jrène

    Jrène

    Lieber André
    einfach nur schön und amüsant wie du deine einmaligen Erlebnisse beschreibst und fotografierst; wie immer zum hautnah miterleben…..
    Meine Vorstellungskraft nimmt von Monat zu Monat zu (:
    Ich danke dir
    Jrène

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